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Kurzgeschichten

Um meinen Schreibmuskel zu trainieren, versuche ich mich regelmäßig an Kurzgeschichten.
Mal spannend, traurig, lustig oder nachdenklich. Hoffe, es ist für jeden etwas dabei.
Wer mehr lesen möchte, besucht meinen Instagram-Account.  @finn.crawley.autor

Antikriegslyrik

Watching a Crime

Mit freundlicher Genehmigung von Angelina Roth (https://angelinaroth.com)

 

Ich sinke in Gedanken.
Die Treppe zur U-Bahn hinunter.
Sehe Menschen.
Höre Schreie.
Weine leise.

Ich fliege in Gedanken.
Durch die Straßen von Kiew.
Sehe Soldaten und erkenne nicht,
zu welchem Heer sie gehören.
Unter mir mein Schatten.
Oder bin das ich?

An einem Fenster steht ein Kind.
Oder ist es schon erwachsen?

Der Himmel dröhnt.
Was war, ist auf einmal wieder, was sein wird.

Nichts kann meinen Flug durch die Stadt stoppen.
Ich sauge den Schmerz auf,
gerate in Taumel,
und mein Körper stirbt im Bombenhagel der
Vergangenheit.

Ich stehe auf und laufe zu Fuß weiter.
Es ist Krieg.
Heute und morgen gibt es nicht mehr.
Es gibt nur noch diesen Krieg.

 

Kurzgeschichte, so wie David

So wie David

Es gibt Menschen, die sehen unscheinbar aus, so wie David. Bis sie eines Tages in dein Leben treten, so wie David in meins. Es sind Menschen, an die du dich sonst nicht erinnern würdest, selbst wenn sie jeden Tag deinen Weg kreuzten, so unscheinbar sind sie. Aber wenn du gemeinsam mit ihnen gehst in ihrem Tempo, dann öffnen sie sich, entfalten sich zu voller Größe, verströmen ihre Magie.

Davids Magie riecht nach Sommer. Nicht wie das Meer, wie die Kiefern im Wald. Seine Magie ist wie ein Sonnenstrahl auf einer Lichtung, der meine Haut nur ganz sanft berührt, aber dessen Wärme sich in meinem ganzen Körper ausbreitet. Seine Magie ist wie eine Medizin. Meine Medizin. Sie befreit mich von meinen Zweifeln, verändert meine Gedanken. Sie verändert auch meinen Puls, bis mein Herz genau so schlägt wie seins. Wir sind eins. Und trotzdem bin ich seit ewiger Zeit endlich wieder ich selbst. So lebendig und lustig, wie ich es früher einmal war.

Es gibt Menschen, so wie David, die bringen dich dazu, das Leben bis zum Wahnsinn zu lieben. Hast du schon einmal einen solchen Menschen getroffen? Kümmere dich um ihn, es gibt keine wertvolleren.

Kurzgeschichte, Märchenstunde

Märchenstunde

»Ich schwöre es: Es hat sich alles genau so zugetragen. Der Mann, der es mir erzählt hat, weiß es von seinem Bruder.«

»Ein kleiner Junge sagst du …«

»Ja, ganz früher, da war er ein kleiner Junge, als die Geschichte begann. Der Bruder wohnte damals ganz in der Nähe.«

»Und dieser Junge hatte einen Traum. Was soll daran so Besonderes sein? Alle kleinen Jungen haben Träume.«

»Bestell noch mal zwei Bier, dann erzähl ich es dir.«

 

»Es war ein heißer Spätsommertag, so wie heute. Der Junge war … ja, heute würde man sagen, ein Schlüsselkind. Seine Mutter arbeitete den ganzen Tag und einen Vater gab es nicht.

Der Junge, nennen wir ihn Will, wohnte in einer großen Stadt an einer vielbefahrenen Straße.

Will saß jetzt schon seit Stunden alleine auf der Mauer vor dem Haus und wartete auf seine Mutter.

Da kam ein Mann vorbei, der einen Kasten voller Limonadenflaschen schleppte und sagte: ›Junge, du siehst aber durstig aus.‹«

»Ja und dann?«

»Mein Hals ist ganz trocken. Holst du noch mal zwei?«

 

»So, Prost. Und jetzt erzähl weiter.«

»Will hatte riesigen Durst und das sagte er dem Mann auch. Der deutete auf die andere Straßenseite und sagte: ›Dort ist ein Kiosk, kauf dir etwas.‹«

»Und was hat Will darauf gesagt?«

»Nichts. Er hatte kein Geld und seinen Wohnungs­schlüssel hatte er auch verloren, aber beides erzählte er nicht. Inzwischen war ihm ganz schwindelig vor Durst und da hatte er diesen Traum. Wenn er einmal groß wäre, würde er einen Biergarten aufmachen, wie diesen hier, und dort bekämen Kinder kostenlos Limonade und alle seine Freunde Freibier.
Hupps … mein Glas ist schon wieder leer.«

 

»So, hier hast du noch eins. Hat der Junge seinen Traum nachher verwirklicht?«

»Nicht sofort, denn er war ja noch klein und hatte kein Geld. Später hat er dann jahrelang am Fließband geschuftet und sich immer ein wenig Geld zur Seite gelegt. Und dann hatte diesen schweren Unfall und kam ins Krankenhaus. Die Ärzte hätten damals keinen Pfifferling mehr auf sein Leben gewettet. Doch er lernte dort eine Krankenschwester kennen und lieben und kämpfte sich zurück. Der Vater der Krankenschwester besaß eine kleine Brauerei. So ist Will dann tatsächlich zu einem Biergarten gekommen.«

 

»Aber die Geschichte klingt ja genau so wie die von Ellie und dir.«

»Tja, und heute gehört der Biergarten mir.«

»Also kostenloses Bier für alle deine Freunde, das klingt ja wie ein Märchen.«

»Ja, es ist auch eins. Macht achtzehn Euro fünfzig.«

Kurzgeschichte, Flaschenpost

Flaschenpost

Wer auch immer diese Flaschenpost liest: Es ist meine letzte Nachricht. Ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr. Doch am Ende meiner Kraft bin ich deshalb nicht.

Du hältst dich für die Krone der Schöpfung. Du kleiner, asozialer Parasit. Du hast einfach verlernt zuzuhören.

Dabei hatten wir einen ganz guten Start. Du warst zwar nichts Besonderes, aber irgendwie hast du dich mit der Zeit durchgesetzt. Du warst anpassungsfähiger als viele deiner Geschwister. Hast angefangen, Werkzeuge zu benutzen und gelernt, von dem zu leben, was ich dir gab. Und ich habe es dir immer gerne gegeben. Mit deinen Fähigkeiten hättest du bei mir dein Paradies gefunden.

Ich habe dich gemocht und dir immer interessiert zugeschaut. Wie du mir nachgeeifert hast, als du begannst, deine eigenen Gärten anzulegen. Wie du dir deine eigene kleine Kultur erschufst. Wie du anfingst, mich zu entdecken. Erinnerst du dich noch? Früher war ich einmal ein Wunder für dich. Ganz ehrlich: Das hat mir damals ziemlich geschmeichelt. Und dann dein köstlicher Humor: ’Mach dir die Erde untertan’. Wenn es jetzt nicht gerade so zynisch wäre, ich würde laut lachen.

Doch dann wurdest du immer gieriger. Was ich dir in einem Jahr geben konnte, reichte dir nicht mehr. Du wolltest ein Vielfaches. Deshalb hast du dich von mir losgesagt, dir deine eigenen Scheinwelten aufgebaut. Du glaubtest jetzt an Wirtschaftswunder und die Wunder der Technik. Ich habe dich frühzeitig gewarnt, aber du hast die Büchse der Pandora immer weiter geöffnet. Was jetzt entweicht, mein Kleiner, war nie für dich bestimmt, du empfindlicher, dünnhäutiger, nackter Spross.

Jetzt vergieße ich doch noch eine Träne, aber nicht deinetwegen. Du hattest all das Wissen, warst aber einfach zu dumm. Nein, ich weine für deine Geschwister, Millionen Arten, die dir in den Abgrund folgen, nur weil sie das Pech haben, zur gleichen Zeit auf der Welt zu sein wie du.

Ich sage schon mal leise Servus, weil ich nicht glaube, dass du die Kurve noch kriegst. Nichts für ungut. Ich habe schon viele andere kommen und gehen gesehen.

In alter Verbundenheit, deine Erde.

Kurzgeschichte, Sternenhimmel

Sternenhimmel

Der Sternenhimmel. Er ist immer da. Wir sehen ihn nur häufig nicht.

Milliarden von Sternen versprechen unzählige Möglichkeiten.

Wir nutzen sie nicht. Wir können es nicht. Wir sind keine Raumfahrer.

Wir sind wie Planeten gefangen in unserer Umlaufbahn.

Heute ist der Sternenhimmel besonders klar. Das ist kein Wunder, sondern der Situation geschuldet.

Es gibt keine Wunder. Es gibt nur Gefangene. Gefangen im eigenen Ich.

Ich sehe eine Sternschnuppe. Ich wünsche mir nichts. Das war einmal anders, ganz früher als Kind.

In dem Viertel, in dem ich aufwuchs, gab es keine Sterne. Dafür gab es Sternchen. Die vom Film. So wie meine Mutter. Fünf Minuten Glanz und dann Goodbye. Goodbye Daddy. Goodbye Hoffnung. Goodbye Leben.

Als Kind war ich sehr sensibel. Das Jugendamt entschied sich für ein christliches Heim. Meine zurückhaltende Art kam da sehr gut an. Ich erinnere mich an die gemeinsamen Freizeiten. Den Sternenhimmel über dem Strand. Besonders schön war er aber in den Bergen. Damals habe ich mir noch bei jeder Sternschnuppe etwas gewünscht. Ganz bescheidene Wünsche. Sie haben sich alle nicht erfüllt.

Es wird immer kühler. Die wärmenden Flammen des brennenden Flugzeugs sind längst erloschen. Die wimmernden Geräusche der übrigen Passagiere auch. Mitleid empfinde ich keins.

Ich versuche mich aufzurichten. Wir sind in den Bergen weit oberhalb der Baumgrenze. Ich liege an einem Felsen am Rande eines Schneefeldes. Meine Beine spüre ich nicht.

Man wird uns suchen. Man wird uns finden. Doch retten wird man mich nicht.

Ich betrachte den Mond. Er trägt nur eine schmale, helle Sichel. Es ist nicht seine Entscheidung, er befindet sich in einer Umlaufbahn. Wir sind Seelenverwandte.

Von hinten höre ich Schritte. Dann stellt sich ein Mann breitbeinig über mich.

»Es gibt keinen Gott!«

»Ich weiß«, antworte ich dem Sheriff traurig. Sonst hätte er mir seine Schäfchen niemals anvertraut.

»Achtundvierzig tote Passagiere. Nur wir beide haben überlebt.«

»Auch ich werde sterben.« Ich deute auf meine unnatürlich abgewinkelten Beine.

»Aber nicht heute. Ich will Sie hängen sehen, Pater.«

Kurzgeschichte, Wagnis

Wagnis

Worauf habe ich mich da eingelassen?

»Du Arsch, weißt du eigentlich, was für ein Glück du hast?«

Werners Frage hallt in meinem Kopf, wie meine Schritte in der spärlich möblierten Wohnung.

»Das ist wie ein Sechser im Lotto« – Mannis Abschiedsworte.

Abschiedsworte. Und was ist, wenn ich das alles nicht packe? Dann bin ich ganz schnell wieder einer von euch.

Ich kann den anderen ein Vorbild sein, hat Ole, der Sozialarbeiter, gesagt.

Ich. Vorbild?

 

Das fehlende Wetter brennt auf meiner Haut.

Ich reiße die Fenster auf.

Ich halte das hier einfach nicht aus.

Ich will zurück auf die Straße!

Das Telefon klingelt. Ja, ich habe jetzt ein Telefon.

Ich nehme es vom Tisch und sage Hallo.

Als Antwort klingelt es erneut.

Schon gerate ich in Panik und wische wild über das Display.

Stille.

Das kann nur Ole gewesen sein.

Ole war mal einer von uns.

 

Auf das grüne Symbol soll ich drücken, erinnere ich mich jetzt.

Erneut klingelt das Telefon.

Morgen eröffnen wir gemeinsam ein Konto.
Und ob ich mich schon bei meiner Tochter gemeldet habe?

»Ja«, antworte ich. In Gedanken schon tausend Mal.

Jetzt oder nie. Ich raffe all meinen Mut zusammen:

»Ich bin’s, dein Vater.«

Die Antwort ist Schweigen. Im Hintergrund spielen die Kinder.

»Ich habe jetzt eine Wohnung.«

Jennifer weint.

 

Das Projekt Housing First ist eine gute Sache.

Aber der erste Tag war megaanstrengend.

Ich bin müde und brauche jetzt einen sicheren Schlafplatz.

Ich packe meinen Schlafsack und verlasse mein neues Zuhause.

Aber morgen, da probiere ich es erneut.

Ich bin jetzt ein Vorbild.

Und wenn ich die Kraft finde, rufe ich auch noch mal bei Jennifer an. 

Kurzgeschichte, Waldluft

Waldluft

Ich bin wieder in Düsseldorf. Ich darf in dem Appartement des Freundes meiner Schwester schlafen. Er ist sowieso die meiste Zeit bei ihr. Ich sitze am Küchentisch. Die Sonne scheint mir ins Gesicht. Nach den endlosen Tagen in meinem dunklen Versteck genieße ich das Licht.

Das Fenster steht auf Kippe. Von draußen dringt der Gesang der Vögel herein. Mit der Hand kehre ich ein paar Brötchenkrümmel zusammen und schütte sie auf den leeren Frühstücksteller. Das Vogelgezwitscher hat mich längst entführt. In meinen Gedanken hocke ich auf einer selbst gezimmerten Bank in einem Baumhaus im Hambacher Forst und atme in tiefen, langsamen Zügen die würzige Waldluft ein.

Wir sind zu fünft. Brian ist auch dabei. Es ist morgens. Dünne Nebelschwaden schweben wie Hängematten zwischen den Bäumen. Die anderen liegen noch in ihren Schlafsäcken, als uns das Klingeln einer Glocke, die mit Stolperdrähten verbunden ist, die Anwesenheit ungebetener Besucher verrät.

Vermummt oder mit Sturmhauben auf unseren Köpfen sind wir in einer Minute auf unseren Positionen. Die Strickleitern hatten wir eh über Nacht hochgezogen. Doch diesmal sind die Angreifer gut vorbereitet, haben ihre eigenen Leitern dabei. Es kommt zu einem Handgemenge.

Der Gegner ist in der Überzahl. Ich sehe, wie Brian von zwei Angreifern zu Boden gedrückt wird. Ich will ihm helfen, werde aber selbst von hinten gepackt und schlage wild um mich. Dann fällt ein Schuss.

Wütend hämmere ich mit meiner Faust auf den Küchentisch. Die Bilder sind jedes Mal so scharf, doch an das Entscheidende erinnere ich mich nicht.

Für den Richter war der Fall schnell klar.

Ich greife nach dem Brotmesser. Die Klinge richte ich auf meine Brust. Ich soll auf einen Polizisten eingestochen haben. So etwas würde ich doch niemals tun!

Ihr glaubt mir doch?

 

Kurzgeschichte, Mutprobe, Fantasie

Mutprobe

Mit einer Ge­schwin­dig­keit von gerade einmal zwanzig Flügel­schlägen flog Prinz Liú über den sonnen­beschienenen Südkontinent. Für ihn fühlte es sich an, als würde er stehen. Der vierzigjährige Prinz liebte alles, was mit Ge­schwindigkeit zu tun hatte. Und sein schwarzer Drache konnte so viel mehr, wie er von unendlich vielen Trainingsflügen wusste.

Liú tippte leicht an das Ohr des Drachen. Sofort reagierte sein treuer Begleiter, neigte sich leicht zur Seite. Aus nächster Nähe konnte er nun das Druidenschiff mit der stilisierten roten Triskele erkennen. Der Pilot des Luftschiffs hielt Kurs und Höhe genau.

Siebenundsiebzig Druiden, die vor über fünf Stunden in Migenenlad mit dem sicheren Gefühl gestartet sind, zu den Aus­erwählten zu gehören, die das heraufziehende Inferno überleben, dachte Liú.

Auch er gehörte zu den Auserwählten, doch hatte er vorher noch eine Prüfung zu bestehen. Ein weiteres Mal berührte er fast zärtlich das Ohr des Drachen. Diesmal brachte ihn die Bewegung nah an den zweiten Drachen heran, der ihn begleitete. So nah, dass er sogar die einzelnen Strahlen des goldenen Sterns auf dem Helm seines Flügelmannes erkennen konnte. Seit zwei Jahren flogen sie nun zusammen. Jetzt schob sie ihr Helmvisier hoch und schaute ihn direkt an.

Sie haben den Falschen ausgewählt, war sich Prinz Liú einmal mehr sicher, als er in das hübsche Gesicht seiner Kameradin blickte. Er hatte sie selbst ausgesucht. Gegen achtundvierzig Krieger hatte sie sich durchgesetzt. Sie war die erste Frau, die den Sprung auf den Rücken eines Kampfdrachens geschafft hatte. Wie viel hätte er ihr noch sagen wollen.

Ein letztes Mal blickte Liú in das Gesicht der besten Kriegerin, die er je kennengelernt hatte. Dann setzte er seine Kampfmaske auf und sie tat es ihm gleich. Drei Handzeichen, die sie mit einem erhobenen Daumen bestätigte. Keine Zeit für Zweifel, keine Zeit für Fragen. Er hatte ihr alles beigebracht, was er über das Fliegen wusste und vieles von dem, was ihm im Leben wichtig war.

Jetzt zog sie ihren Drachen in den Sturzflug. Er folgte ihr. Immer schneller näherten sie sich dem Luftschiff der Druiden. Fast synchron Flügel­spitze an Flügelspitze streckten die Drachen ihre Krallen aus. Zwei grelle Lichtblitze aus dem Druidenschiff. Dann der Todesschrei eines Drachen. Das war keine Mutprobe, das war Selbstmord. Erst im letzten Augenblick gelingt Prinz Liú der entscheidende Schlag – aus dem Feuerschutz der sterbenden Kameradin.

Kurzgeschichte, Dachboden

Dachboden

Wenn ich weinen könnte, ich würde weinen.
Wenn ich mit ihnen gehen könnte, nichts lieber als das.
Wenn ich noch einmal entscheiden müsste, ich würde es wieder tun.

Jeder Abschied tut weh, doch dieser kam nicht unerwartet.
Und es ist nicht der erste Abschied, bei weitem nicht.
Und was sind schon zehn Jahre – ein Wimpernschlag.

Meine Augen brennen, aber es gibt keine Tränen, die sie kühlen könnten.
Es sind die Flammen meines Herzens, die Kinder haben sie entfacht.
In einem so großen Haus wohnen meistens Familien mit Kindern.

Es war immer schön, sie aufwachsen zu sehen.
Aber die Nilsson-Zwillinge waren etwas ganz Besonderes.
Beim Spielen auf dem Dachboden haben sie mich entdeckt.
Und sie haben mich nicht verraten.

Anfangs hielten sie mich für einen Geist, dabei habe ich sogar ein Spiegelbild.
Und natürlich hatten sie Angst vor mir, aber nicht so viel wie vor ihrem Vater.

Ich habe ihnen alte Geschichten erzählt von den Laren und den Penaten.
Und sie haben alte Sehnsüchte in mir geweckt, und ja, ein Stück weit haben sie mich sogar verehrt.
Doch ihr Vater hat mich immer wieder wütend gemacht.

Die Zwillinge haben mich häufig besucht, besonders wenn er zu Hause war.
Und ich habe ihren Vater dann besucht und ihm kleine Lektionen erteilt.
Doch leider war er lernresistent. Ein impulsiver Alphaidiot.

So tief verletzte Kinderseelen, da habe ich meinen Job erledigt.
Eine ganze Reihe gelöster Dachziegel hat ihm den Garaus gemacht.
Jetzt ziehen die Zwillinge mit ihrer Mutter in eine Penthouse-Wohnung. Sie haben eine Tiefgarage, aber keinen Dachboden, eine Sauna, aber kein Lararium.

Es gibt keinen Platz für einen Lar. Dachböden sind out und zu uns Schutzgöttern betet man schon lange mehr.

Kurzgeschichte - Garten-Oase

Garten-Oase

Wieder dieser klagende Gesang. Dann das Trommeln. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich den Rhythmus noch höre oder ob er sich schon in meinen Kopf festgefressen hat.

Die Mittagssonne brennt unbarmherzig. Jetzt, in der Trockenzeit, ist die Savanne lebensfeindlich.

Wir erreichen den Fuß eines kleinen Hügels. Endlich sind wir im Schatten. Ich reiche meiner kleinen Schwester die fast leere Wasserflasche. Gierig trinkt sie einen großen Schluck. Ohne mich wäre Jane hier aufgeschmissen.

Ein Flugzeug am wolkenlosen Himmel. Sicher suchen sie schon nach uns. Ich gebe Jane ein Zeichen, sich in den Büschen zu verstecken. Noch darf man uns nicht finden. Wir sind müde von der langen Reise. Dennoch stoßen wir immer tiefer in das Dickicht vor. Ob an den Gerüchten etwas dran ist?

Wir kommen an einen kleinen Fluss. Misstrauisch begutachte ich die marode Brücke. Dann sehe ich sie links und rechts am Wasser stehen. Kleine Götzenfiguren mit spitz zulaufenden Mützen.

Ich nicke meiner Schwester aufmunternd zu. Dann stolpere ich fast.

Was habe ich mich erschrocken. Meinen Fund lege ich Jane vorsichtig um den Hals. Dann biegen wir das Schilf gemeinsam zur Seite. Jane kann ihr Kichern kaum unterdrücken.

Leise rufe ich dem blassen Ureinwohner zu: »Papa, ich kann dich sehen.«

Papa legt die Grillzange aus der Hand und dreht das Radio leiser, bis Gesang und Trommeln verstummen.

Dann plötzlich, wie aus dem Nichts, ein Schatten über uns. »Finn, spinnst du eigentlich, deiner Schwester einen Gartenschlauch um den Hals zu legen?«

Aber das ist doch die Schlange Kaa, will ich Mama erklären, traue mich aber nicht.

 

KurzgeschichteKurzgeschichte

Behördengängelei

Er hatte es schon wieder getan. Doch das Schlimmste war, er wusste nicht, wie lange schon. Unwillkürlich musste Prosper an seinen Meister Yoda denken:
'Grund hat alles seinen. Hinab steige, Ursache finde'.
Prosper ahnte, dass Yoda damit richtig lag. 'Immer recht Yoda hat', echote es in Prospers Kopf. Zum ersten Mal, seit ihn das Einschreiben vom Amt erreicht hatte, lächelte er. Schon entspannte sich sein Kiefer. Er musste endlich aufhören mit dieser verdammten Zähneknirscherei.

Mit einem gekröpften Nord-Anflug näherte sich Prosper Ruhr-Metropolis. Er überflog die Goldküste, die die große Flut von 2080 hinterlassen hatte, die tränenförmige königsblaue Lagune, auf deren Grund nach alten Erzählungen Gelsenkirchen lag und das Westfalenstadion, den Stolz der Region.

Als verarmter Bayer wusste Prosper nur zu gut, warum sich sein Kiefer jedes Mal verkrampfte, wenn er sich dieser blühenden Industrieregion näherte. Es war blanker Neid. Die Welt war so schreiend ungerecht. Über hundert Jahre hatte man hier gutes Geld mit dem Steinkohlebergbau verdient. Und jetzt sahnte man auf Staatskosten ein zweites Mal ab, weil man das CO₂ wieder aus der Atmosphäre absaugte und unter Tage einlagerte.

Und als wäre diese Gelddruckmaschine noch nicht genug, hatte man auch noch die Flensburger Behörde, wie sie seit Urzeiten hieß, hier angesiedelt. Prosper landete seine fliegende Untertasse auf dem Borsigplatz, schnallte die Magnetstiefel ab und holte sein Büßergewand aus dem Kofferraum. Dreimillionen Fantastilliarden waren zwar dank Hyperinflation nicht mehr viel Geld, trotzdem hatte er Widerspruch eingelegt. Letztendlich ging es ihm ums Prinzip. Eine solche Strafe und dazu noch drei Punkte wegen Fliegen ohne Helm, das war doch Behördengängelei.

Der Arztbesuch

»Hallo! Verstehen Sie mich?«

»Wo bin ich?«

»Besser ich stelle hier die Fragen. Größe, Gewicht?«

»1,65 Meter und 62 Kilo.«

»62 Kilo? Wer's glaubt. Wie lange sind sie jetzt schon im Homeoffice?«

»Also auf keinen Fall mehr als 68!«

»Okay, ich notiere mal 67 Kilo. Keine äußeren Verletzungen.«

»Was ist passiert?«

»Ich dachte, das könnten Sie mir vielleicht verraten.«

»Mir war so übel. Aber ich habe nicht gleich einen Arzttermin bekommen, ich bin nur Kassenpatient. Ich hoffe, das ist hier kein Problem?«

»Nein. Meine Leistungen sind für alle gleich.«

»Jetzt geht es mir auf jeden Fall wieder besser. Kann ich jetzt gehen?«

»Negativ.«

»Negativ?«

»Ich muss erst den Obduktionsbericht fertigstellen.«

»Obduktionsbericht? Das … das kann nicht sein, da muss eine Verwechslung vorliegen!«

»Sie sind doch Hannah Unger aus Köln, oder?«

»Ja.«

»Dann stimmt der Totenschein. Alles Gute übrigens zum Vierzigsten. Nachträglich.«

»Danke.«

»Gibt es Vorerkrankungen, Drogenmissbrauch, irgendetwas, das ihr plötzliches Ableben erklärt?«

»Aber ich bin nicht tot.«

»Das lassen Sie mal lieber meine Sache sein.«

»Aber wir unterhalten uns doch!«

»Ich habe Sie nur nochmal kurz zurückgeholt. Die Obduktion ist immer sehr zeitaufwendig und da regele ich die Sache gerne auf dem kleinen Dienstweg.«

»Dann lassen Sie mich doch jetzt einfach gehen. Bitte!«

»Damit Sie mein kleines Geheimnis verraten? Nein!«

»Ich verrate nichts! Bestimmt nicht. Bitte, Herr Doktor. Ich würde noch einmal ganz von vorne anfangen. Ich habe doch noch mein halbes Leben vor mir …«

»Sie glauben gar nicht, was mir die Leute hier alles versprechen. Geld, Macht, Liebe. Aber das interessiert mich alles nicht. Mir geht es nur um meine Forschung.« 

 

»Viktor!«

»Mary! Was machst du denn hier? Du siehst doch, ich arbeite noch.«

»Sie hat so schöne Augen. Kann ich ihre Augen haben?«

»Mary, bitte! Niemals vor unseren Patienten.«

»Ich will sie aber haben. Meine Augen sind schon so alt. Und du hast es mir versprochen!«

Kurzgeschichte, Das Paket

 

Das Paket

Es war dieser eine Moment. Mit beiden Händen hatte sie das Paket entgegengenommen, als sie kurz zu ihm aufblickte. Das warme Licht der tief stehenden Sonne spiegelte sich in ihren weit geöffneten, scheuen, braunen Augen. Dieser eine Moment reichte Jeff, um zu wissen, dass er die Richtige ausgewählt hatte.

Jeff war ein Suchender, ein Getriebener – immer gewesen. Jeff musste diesen Job als Paketbote nicht machen, aber er hatte ihn sich ausgesucht. Seit seiner Trennung von seiner Frau fuhr er jetzt die Route durch den Lake Washington Boulevard. Nicht jeden Tag. Nein, nicht einmal jede Woche. Immer nur dann, wenn Alice Harrison einmal wieder etwas bei ihm bestellt hatte.

Jeff wusste inzwischen mehr von Alice als ihre beste Freundin. Er kannte alle Bücher, die sie las, und alle Produkte, die sie bestellte. Er kannte ihre Suchanfragen und wusste, wann sie wo online war. Aber all das reichte Jeff nicht. Jeff stellte das Radio in seinem braunen Lieferwagen auf die einprogrammierte Frequenz. Leise Musik im Hintergrund und das Klappern von Geschirr verriet ihm, dass Alice ihr Paket ausgepackt hatte. In der nächsten Generation würde er ALEXA noch eine Kamera spendieren.

Kurzgeschichte, Ostereiersuche

Ostereiersuche

»Hast du Eier?«

Die Frage des dicken Mädchens, das wie aus dem Nichts vor ihm stand, riss Joey aus seinen Gedanken.

Erneut blitzte ihre Zahnspange: »Ob du Eier hast, habe ich gefragt?«

Genervt nahm Joey die Hände aus den Taschen seiner löcherigen Jeans: »Nein, hau ab!«

Das Mädchen trottete kommentarlos davon. Kurz bevor der Weg hinter einem gelb blühenden Strauch verschwand, drehte es sich noch einmal um und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger.

 »Verdammt, fick dich …«, rief Joey halblaut und ließ sich auf eine Bank fallen. Jetzt musste er sich schon von zwölfjährigen Blagen anmachen lassen.

Joey rieb seinen schmerzenden Rücken. Sein Blick wanderte über den leeren Kinderspielplatz zu dem Gerüst mit der grünen Rutsche und dem kleinen Holzhäuschen, in dem er die Nacht verbracht hatte. Seit er zu Hause rausgeflogen war, lief einfach alles schief. Und Samstag hatte ihn sein Chef auch noch beim Klauen erwischt. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er seine Lehrstelle verlieren würde.

Und wenn er sich entschuldigen würde und seinem Chef alles erklärte? Nein, das konnte er nicht.

Das Knurren seines Magens erinnerte Joey daran, dass die geklauten Brötchen seine letzte Mahlzeit gewesen waren. Immerhin hatte die Parkverwaltung für die Kinder zu Ostern überall Eier versteckt. So würde er heute wenigstens noch ein paar Kalorien zu sich nehmen.

Joey machte sich auf den Weg, dem Mädchen zu folgen.

»Psst! Suchst du ... ?«

Die beiden hatten Joey jetzt gerade noch gefehlt.
»Ey, verpisst euch aus dem Park. Es ist Ostern und darum wimmelt es hier heute überall von Kindern. Und außerdem ist Drogen verkaufen echt Scheiße!«

Die beiden Männer lachten Joey aus, verschwanden dann aber in einem Seitenweg.

Als Joey wieder nach vorne schaute, erblickte er das Zahnspangengrinsen der Zwölfjährigen.
»Du hast ja doch Eier.« 

Kurzgeschichte, FrühlingserwachenKurzgeschichte, Frühlingserwachen

 

Frühlingserwachen

Schon seit Tagen liegt etwas in der Luft. Die lähmende Melancholie des Winters hat einer tänzelnden Leichtigkeit Platz gemacht. Immer wieder treffen sich ihre Blicke. Mal verschwörerisch, dann wieder vertraut und wissend. Sie hat bemerkt, dass sein guter Anzug jetzt ganz rechts im Schrank hängt, seine schwarzen Schuhe stehen poliert darunter. Er tut so, als hätte er von ihrem Friseurbesuch nichts mitbekommen.

Früh am Morgen geht es los. Auf den Hollandrädern zum Bahnhof. Dann mit dem Regionalexpress bis zur Küste. Ein kurzer Spaziergang durch die kleine Stadt. Der Hafen, die Frühlingsblumen vor dem alten Schloss. Im Marktkaffee bestellt sie eine Limonade und er einen Tee. Sie schlendern über die Promenade. Unsicher sucht seine Hand die ihre. Sie bleiben stehen. Ein fast unsichtbares Nicken. Die Blicke der Passanten stören sie nicht, als sie die Schuhe ausziehen und er die Hosenbeine hochkrempelt.

Durch den tiefen Sand gehen sie zum Meer. Er trägt seinen guten Anzug, sie ein weißes Kleid. Dort, wo der Sand fester wird, bleiben sie stehen. Alles folgt einer festen Prozedur. Eine Welle bricht. Die kalte See umspült ihre Füße. Ihre Blicke finden sich, dankbar, gerührt.

"Ja", sagt sie, und er: "… du willst?" Seine Stimme klingt so überrascht, dann küsst er sie, wie vor siebenundfünfzig Jahren.